2.1. Gynäkologische Onkologie
- Patientinnen erleben durch die Krebserkrankung eine narzisstische Verletzung.Die gynäkologischen Organe und die weibliche Brust haben eine hohe Bedeutung für das frauliche Selbstbild. Krebs bedroht einerseits das Leben der Frau und bewirkt andererseits fast immer eine Störung ihres Körperbildes.
- Betroffen sind primäre und sekundäre Geschlechtsorgane der Frau.Damit werden Fragen der Identität und Authentizität [Autonomie]11aufgeworfen.
- Die Beziehung zum eigenen Köper wird hinterfragt,Partnerschaft, Fertilität und Sexualität sowie das eigene Körperselbstbild werden noch stärker thematisiert als meist ohnehin üblich.
2.2. Somatische Auswirkungen
- Veränderung des Körpers(Chirurgie, Verstümmelung, Organverlust, passagerer Haarverlust). Langfristige Anpassung an das veränderte Körperbild ist notwendig.
- Verminderung oder Verlust von Fähigkeiten muss bewältigt werden (Sexualleben, Fruchtbarkeit [evtl. Abortus], Amenorrhö, verfrühte Menopause, hormonelle Schwankungen, Fatigue).
- Die evtl. Diagnose einer genetischen Disposition und deren Folgen für Patientin und Familienangehörige müssen eingeordnet und Konsequenzen entschieden werden.
2.3. Psychische Auswirkungen
- Ängste, depressive Denkinhalte, Verzweiflung, Verbitterung, Trauer, erhöhter Disstress, Reizbarkeit, seelische Müdigkeit, Niedergeschlagenheit
- Inaktivität, Verringerung sozialer Kontakte, Vereinsamung
2.4. Existenzielle (geistige) Auswirkungen
- Zukunftsangst,Vergänglichkeitsbewältigung, Angst vor dem Rezidiv, vor dem Sterbeprozess und vor dem Tod selbst.
- Schuldgefühle (was habe ich zu meiner Krankheit beigetragen, was übersehen oder versäumt?).
- Identitätsverlust (was bin ich noch wert, wer braucht mich noch?).
- Sinnlosigkeitsgefühle (wozu weiterleben?).
- Spirituelle und Glaubensfragen über den Sinn des Lebens an sich werden akut.
2.5. Auswirkungen einer Pandemie (z. B. COVID-19) und andere einschränkende Faktoren für das soziale Leben
- Isolationvon Betreuungspersonen, vor allem Vereinsamung bei Besuchseinschränkungen.
- Verlust von Lebenskraft(Schwächegefühle, Ohnmachtsempfindungen, Ausgeliefertsein).
- Sehnsucht nach sozialen Kontakten(Berührungen sind wichtig, Zuspruch und Ermutigung).
- Depersonalisationsgefühle (sich selbst zunehmend fremd fühlen, Identitätsverlust droht bei zu langer und strikter Isolation aufgrund von Quarantänemaßnahmen).12
- Vernachlässigen von Vorsorge- oder Kontrollterminen.
- Angst vor Zwangsmaßnahmen(Besuchsverbote, auf der Station eingesperrt sein, keinen Abschied nehmen können).
- Folgen von Kriegshandlungen bei geflüchteten Frauen(soziale Ängste, Isolation, Sprachbarrieren, unzureichende bisherige medizinische Versorgung, Weiterführung einer durch Kriegshandlungen unterbrochenen Therapie; Fragen der Krebsvorsorgeuntersuchungen und der Sicherung medizinischer Versorgung im Gastland).17
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3. MÖGLICHKEITEN DER INTERVENTION FÜR ÄRZTINNEN UND ÄRZTE
- Psychoonkologische Fortbildungen an ausgewählten medizinischen Ausbildungseinrichtungen sind empfehlenswert.
- In der praktischen Tätigkeit ist eine möglichst personalisierte Kommunikation in verständlicher Sprache erstrebenswert. Auch in systembestimmten Strukturen und unter praktisch immer vorhandenem Mangel an Zeit kann echtes Interesse und aufmerksames Hinhören auf die Anliegen der Patientin sehr wirksam sein. Zuträgliche Information15hilft den Helfenden und den Patientinnen, Motivation und Vertrauen aufzubauen.
- Die Patientin begegnet der Ärztin/dem Arzt häufig mit einer sehr hohen Erwartungshaltungund dem Wunsch nach Heilung. Bedingungslose Wertschätzung und einfühlendes Verhalten sowie Authentizität als ärztliche Person sind wichtig. Gelassenheit und Geduld sind gefordert, um in den verschiedenen Phasen der Erkrankung die Nöte und Bedürfnisse der Patientin wahrzunehmen. Verunsicherungen durch vage oder determinierend schroffe Aussagen würden Angst und Misstrauen entstehen lassen.
- Im Spitalist eine gute Zusammenarbeit mit dem psychoonkologischen Team erfolgversprechend und entlastend für die Patientin und auch für das Team selbst.
- In der freien Praxisist die Gynäkologin/der Gynäkologe auf die Kunst der Improvisation, des Individualisierungsvermögens, des Taktgefühls und des Fingerspitzengefühls angewiesen. Vielen Patientinnen ist mit der Zuweisung an eine psychoonkologische Praxis gut geholfen (wichtig: diplomierte Psychoonkolog:innen empfehlen).
- Empathische ärztliche Zuwendungverbessert die Durchführung medizinischer Behandlungen wesentlich und erleichtert letztlich den gesamten organisatorischen Ablauf wie auch die menschliche Kommunikation.
- Zuweisung zu Fachkräftenfür gynäkologische PSO im niedergelassenen Bereich: Es gibt Studienevidenz, dass Einzel- oder Gruppentherapien den Therapieverlauf verbessern, die Resilienz und Motivation wie auch die Lebensqualität steigern können.18
- Psychoonkologisch orientierte Herangehensweise erhöht das Wohlbefinden der Patientin und zugleich die Arbeitszufriedenheit von Ärztin oder Arztund leistet damit einen wichtigen Beitrag zur Burnout-Prophylaxe und zur „Work-Life-Balance“.
- Ausschöpfen medizinischer und rechtlicher Möglichkeiten im Angesicht einer Pandemie(Eigenverantwortung des Personals und individuelle Initiativen, um den Patientinnen kurzfristig menschliche Nähe und soziale Kontakte trotz quarantänebedingter Einschränkungen zu ermöglichen).
- Krisenbewältigung und Gesundheitsversorgung für Frauen aus Kriegsgebieten (Zusammenarbeit von Politik, Gesundheitssystem, Spitalserhaltern und erweiterte Bewusstseinsbildung durch spezifische Schulungen sind notwendig).
- Palliativmedizinische Interventionen am Lebensende. Bei der Begleitung einer sterbenden Patientin ist das Anerkennen ihrer individuellen intrapersonellen psychischen Dynamik im Sterbeprozess wesentlich.13
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4. MOTIVIERENDE GEDANKEN FÜR ÄRZTINNEN UND ÄRZTE
- Das Überbringen schlechter Nachrichten(Breaking Bad News)ist auch für Ärztinnen und Ärzte selbst sehr schwierig. Gefasst sein sollte nicht nur die ärztliche Person, die eine schlechte Diagnose oder Nachricht überbringen muss, sondern auch jeder Mensch, der Veränderungen in seinem Körper wahrnimmt.2
- Die Übermittlung von schlechten Nachrichtenist eine der schwersten Aufgaben, nicht nur im klinischen Alltag eines Arztes/einer Ärztin, sondern in nahezu allen Berufen und Bereichen unseres Lebens. […] Auch in einer nach Lage der Dinge hoffnungslosenSituation kann man positive Aspekte für den weiteren Verlauf der Therapie oder des Lebens der Patientin finden und diese kommunizieren, ohne Unwahrheiten zu sagen. Ein gutes Gespräch informiert, unterstützt und versorgt.14
- Self-Care: „Die Person, welche professionell arbeitet, muss ihr Handeln nach dem Maßstab ausrichten, wie sie mit möglichst geringem Energieaufwand möglichst viele ihrer beruflichen Ziele auf einem möglichst hohen Qualitätsniveau erreichen kann.“19(Supervision, Balint-Gruppen, Intervision, kollegialer Austausch, gute Kommunikation, Zuständigkeiten bei Bedarf an verlässliche Personen delegieren, Auszeiten nehmen).
- Das Leben kann immer einen Sinn haben.Viktor Frankl meint: „Das Schicksal, das ein Mensch erleidet, hat also erstens den Sinn, gestaltet zu werden – wo möglich –, und zweitens, getragen zu werden – wenn nötig. Der Sinn ist eine Möglichkeit, die wir zur Wirklichkeit machen können. Dazu muss der Mensch Entscheidungen treffen.“8
1 Ditz, Diegelmann, Isermann (Hrsg.): Psychoonkologie – Schwerpunkt Brustkrebs. Kohlhammer, Stuttgart 2006
2 Sevelda P.: Ein Leben für das Leben – Für ein noch besseres Miteinander zwischen Arzt und Patientin. echomedia buchverlag, Wien 2022
3 Mori H.: Coping von Krebserkrankungen. Spectrum Onkologie 4/2018, Wien 2018
4 Dorfmüller M., in: Dorfmüller, Dietzfelbinger (Hrsg.): Psychoonkologie – Diagnostik – Methoden – Therapieverfahren, 2. Auflage, Urban und Fischer, München 2013
5 Siedentopf U.: Psychoonkologische Betreuung in der Gynäkologie. Walter de Gruyter, Berlin 2010
6 Schulz-Kindermann: Psychoonkologie. Beltz, Weinheim, Basel 2013
7 Antonovsky A.: Salutogenese. dgvt-Verlag, Tübingen 1997
8 Frankl V.E.: Ärztliche Seelsorge. Fischer TB, Frankfurt am Main 1995
9 Patientenleitlinie www.krebshilfe.de (abgerufen am 5. 2. 2025)
10 Schubert C.: Psychoneuroimmunologie und Psychotherapie. Schattauer, Stuttgart 2011/2015
11 Bilek H.P., Mori H. (Hrsg): Synoptische Psychotherapie. Facultas, Wien 2015
12 Mori H.: Existenzanalyse und Logotherapie. 2. aktualisierte Auflage, Facultas, Wien 2023
13 Howoritsch-Steinberg M., in: Uhl B. (Hrsg).: Palliativmedizin in der Gynäkologie. Thieme, Stuttgart 2014
14 Sehouli J.: Von der Kunst, schlechte Nachrichten gut zu überbringen. Kösel, München 2018
15 Merl H.: Über das Offensichtliche oder: Den Wald vor lauter Bäumen sehen. Krammer, Wien 2006
16 Linden M./Weig W., (Hrsg): Salutotherapie in Prävention und Rehabilitation. Deutscher Ärzteverlag, Köln 2009
17 Krebsinformationsdienst Deutschland; www.krebsinformationsdienst.de/ukraine-fluechtlinge-mit-krebs (abgerufen am 5. 2. 2025)
18 Breitbart W., Applebaum A.: Meaning-Centered-Group Psychotherapy MCGP. Memorial Sloan Kettering Cancer Center, New York. In: Handbook of Psychotherapy in Cancer Care by Watson M., Kissane D. Wiley-Blackwell, Chichester UK 2011
19 Schmidbauer W., Helfersyndrom und Burnout-Gefahr, Urban und Fischer, München 2002